Befreiung der Niederlande
Gedenken zum 80. Jahrestag
ein Schreiben von Joachim Gauck
Altbundespräsident Joachim Gauck hat anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung der Niederlande von der deutschen Besatzung am 5. Mai 2025 einen bewegenden Beitrag verfasst. Der Text, der auf Vermittlung des deutschen Pfarrers in Den Haag für den niederländischen Raad van Kerken entstanden ist, wird Teil der Feierlichkeiten zu diesem bedeutenden Jubiläum sein. Nachfolgend veröffentlichen wir hier das Schreiben von Joachim Gauck.
Die Befreiung der Niederlande von der deutschen Besatzung jährt sich zum 80. Mal. Dieses Ereignis ist mehr als nur ein historisches Datum – es ist ein Meilenstein in der Geschichte der Freiheit, ein Mahnmal für die Schrecken der Tyrannei und ein Zeugnis für die Kraft des Widerstands. Der Blick auf diese Zeit ist eine Aufgabe der Erinnerungskultur, die nicht nur die Niederlande betrifft, sondern auch uns Deutsche in besonderer Weise.
Für mich bedeutet dieses Jubiläum ein Nachdenken über die doppelte Verantwortung, die sich aus unserer Geschichte ergibt: Die Verantwortung, das Geschehene nicht zu vergessen, und die Verantwortung, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
Die Zeit der Besatzung war für die Niederlande eine Phase tiefen Leids. Über 100.000 niederländische Juden wurden Opfer des nationalsozialistischen Terrors. Sinti und Roma, politische Gegner, Widerstandskämpfer und viele andere wurden verschleppt, misshandelt und ermordet. Diese Verluste stehen für eine grausame Vernichtungsideologie, die Menschenrechte und menschliche Würde mit Füßen trat.
Doch inmitten dieses Grauens gibt es bewunderungswürdige Beispiele des niederländischen Widerstands. Der Februarstreik 1941, eine der wenigen öffentlichen Protestaktionen gegen die Verfolgung der Juden in Europa, zeugt von dieser Courage. Menschen wie Corrie ten Boom, die in ihrem Haus jüdische Familien versteckte, oder Hans Keilson, der sich jüdischen Kindern widmete, die in niederländischen Familien versteckt waren, stehen symbolisch für eine Menschlichkeit, die selbst unter größtem Druck nicht erlosch.
Diese Geschichten erinnern uns daran, dass auch in Zeiten größter Unfreiheit Handlungsspielräume existieren – und dass es eine individuelle Entscheidung ist, ob man sich dem Unrecht beugt oder dagegen aufsteht.
Die Befreiung der Niederlande durch die Alliierten markierte das Ende der Besatzung und die Rückkehr der Freiheit. Polnische Truppen unter General Stanisław Maczek spielten dabei eine entscheidende Rolle. Ihre Leistung steht exemplarisch für die Befreiung Europas von der nationalsozialistischen Tyrannei und erinnert uns an die internationalen Dimensionen dieses Kampfes.
Für uns Deutsche ist die Erinnerung an die Besatzung und Befreiung der Niederlande auch eine Erinnerung an unsere historische Schuld. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass die Niederlande und Deutschland heute Partner in einem geeinten Europa sind – in einer Gemeinschaft, die sich der Freiheit, Demokratie und den Menschenrechten verpflichtet fühlt.
Die Geschichte lehrt uns somit, dass Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist. Sie ist nicht ein Zustand, den man erlangt und für immer bewahrt, sondern ein Projekt, das stetiger Pflege und Erneuerung bedarf. Jede Generation steht vor der Aufgabe, Freiheit zu bewahren, sie mit neuen Inhalten zu füllen und ihre Werte gegen Bedrohungen zu verteidigen.
In Zeiten, in denen Freiheit und Demokratie weltweit angegriffen werden, kommt dieser Aufgabe eine besondere Bedeutung zu. Das Vermächtnis der Befreiung erinnert uns daran, dass wir für die Rechte anderer eintreten müssen – nicht nur in unseren eigenen Ländern, sondern auch international. Es ist eine Verpflichtung, die aus der Geschichte erwächst und zugleich universell ist.
Die Befreiung der Niederlande steht sinnbildlich für die Kraft der Freiheit und die Möglichkeit, selbst aus tiefstem Leid Hoffnung und neue Stärke zu schöpfen. Sie mahnt uns, die Geschichte nicht nur zu erinnern, sondern sie auch als Kompass für unser Handeln zu nutzen.
Für uns Deutsche bedeutet dies, uns unserer Verantwortung immer wieder neu bewusst zu werden – nicht nur im Gedenken an die Opfer, sondern auch im Einsatz für eine Welt, in der Freiheit, Menschenrechte und Würde die höchsten Werte bleiben. Dies gilt ganz besonders heute, da im Osten Europas durch Russlands Krieg gegen die Ukraine diese Werte angegriffen werden.
Möge die Erinnerung an die Befreiung uns alle ermutigen, die Freiheit zu schützen und das Vermächtnis derer, die für sie gekämpft haben, weiterzutragen. Denn Freiheit ist mehr als ein Privileg – sie ist eine Verpflichtung.
Beitrag von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck
zum Gedenken an 80 Jahre Befreiung der Niederlande
von der deutschen Besatzung
Artikel veröffentlicht am 25. April 2025