im Schwesternhaus-Ensemble Kleinwelka
 

oder

Warum sich Kommunen künftig um Herrnhuter Kulturerbe kümmern wollen



ein Beitrag von Lutz-Wolfram Reiter

 

 

Anfang September unterzeichneten die Stadtoberhäupter von Bautzen, Niesky und Herrnhut erstmals eine Vereinbarung zur künftigen Zusammenarbeit bei der Bewahrung, Entwicklung und Sichtbarmachung des gemeinsamen Kulturerbes der Herrnhuter Brüdergemeine. Dabei erhielten sie Unterstützung von weiteren Erstunterzeichnern wie dem vor Ort tätigen gemeinnützigen Verein Schwesternhaus Kleinwelka e.V., der Evangelischen Brüder-Unität als Eigentümerin des Ensembles sowie der beiden Präsidenten von Europa Nostra Dänemark und Deutschland. Die mehrtägige Veranstaltung stand unter der Schirmherrschaft der Deutschen Botschaft in Dänemark sowie der Dänischen und der Tschechischen Botschaften in Deutschland. Doch wie kam es zu dieser Vereinbarung und was bedeutet dies für die Zukunft?

 

 

Wer Kleinwelka kennt oder schon mal im historischen Zentrum der ehemaligen Herrnhuter Kolonie zu Besuch war, weiß, dass es vor Ort eher beschaulich zugeht. Das kleine Ortszentrum rund um den im Jahr 1758 fertiggestellten Kirchensaal gerät in den vergangenen Jahren nur selten in die Schlagzeilen der überregionalen Presse. Dies meist dann, wenn entweder die Eigentümerin beziehungsweise der dort tätige Verein Schwesternhaus Kleinwelka e.V. glücklicherweise dringend notwendige Fördermittel seitens des Landes und/oder des Bundes erhalten oder kulturelle Veranstaltungen anbieten, die den bekannten Rahmen klassischer Veranstaltungen in und um Bautzen verlassen. Ansonsten ist das öffentliche Interesse eher gering, obwohl der Ort mit seinen 32 unter Denkmalschutz stehenden Gebäuden aus der Anfangszeit eine reiche, weit über die regionalen Grenzen wichtige Geschichte aufweist. Eine Geschichte, die den meisten Personen innerhalb und außerhalb des Kontextes der Brüdergemeine weitestgehend unbekannt beziehungsweise in Vergessenheit geraten ist. 

 

 


Und genau an diesem Punkt fängt es an, spannend zu werden. Denn Kleinwelka hat gleich eine ganze Reihe an authentischen Orten, die für das Selbstverständnis der Brüdergemeine in den vergangenen Jahrhunderten von zentraler Bedeutung sind. Dies ist beispielsweise die ehemalige Missionsschule, die über mehr als 100 Jahre hinweg das Leben des Ortes prägte. Hierher kamen die Kinder der Herrnhuter Missionare aus der gesamten Welt zur Ausbildung. Damit lernten die Kinder und Erzieher:innen Sitten und Gebräuche aus zu dieser Zeit im deutschsprachigen Raum meist unbekannten Kulturen. Es entstanden interkulturell geprägte Freundschaften, die bis weit in das Erwachsenenalter überdauerten.
Der Ort war lange Zeit beliebter Altersruhesitz der im Missionsdienst tätigen Brüder und Schwestern. Hier vor Ort hatten diese die Chance, wenigstens einige Jahre mit ihren in den Erziehungsanstalten groß gewordenen und später vor Ort selbst als Erzieher:innen arbeitenden Kindern respektvoll und in räumlicher Nähe zu leben.
Viele der früher im Missionarsdienst tätigen Ruheständler waren zudem gefragte Übersetzer für Schriften und Neuigkeiten der Brüder-Unität. Vor Ort entstanden viele Übersetzungen ins Sorbische oder vom Sorbischen ins Deutsche. Schriften, die das Druckereigewerbe in der Stadt Bautzen und der Oberlausitz bedienten und heutzutage wichtige Primärquellen für das Selbstverständnis der sorbisch geprägten Bevölkerung sind.
Auch im Bereich des Handwerks gibt es einige wichtige nationale und internationale Verbindungen, die kaum noch bekannt sind. Stellvertretend hierfür steht die Buntgießerei Gruhl. Denn Friedrich Gruhl, Begründer der gleichnamigen Glockengießerei vor Ort, wuchs in der ehemaligen Herrnhuter Siedlung Gnadenberg auf und erlernte das Handwerk in der dortigen Glockengießerei von Johann Thomas Pühler. Nach dem Umzug nach Kleinwelka konnte er im Jahr 1812 seine erste größere Glocke gießen, die noch heute in Kleinwelka vorhanden ist. Zeitweise florierte seine Werkstatt so gut, dass er einer der größten Arbeitgeber in der Kolonie war. Die Firma blieb bis 1896 im Familienbesitz. Rund 1.700 bis 2.000 Glocken wurden in der Kleinwelkaer Glockengießerei hergestellt, noch heute sind die meisten davon weltweit in Gebrauch. Südafrika bildet dabei einen Schwerpunkt, aber auch in Australien, den Vereinigten Staaten, auf den Amerikanischen Jungferninseln (ehemals Dänisch-Westindien) und natürlich in Deutschland, Polen und Tschechien sind noch viele Glocken erhalten geblieben. Für Bautzen besonders interessant sind die Glocken des Doms St. Petri, die alle aus der Kleinwelkaer Werkstatt stammen.
Viele der in Kleinwelka Missionsschule großgewordenen Kinder wechselten ab einem gewissen Alter ins Pädagogium nach Niesky. Die dortige Namensliste der ehemaligen Schüler liest sich in Teilen wie ein Who is who für das Land später prägender Persönlichkeiten. Stellvertretend genannt sei hier Friedrich Schleiermacher (1768 bis 1834), der als einer der wichtigsten Autoren seiner Zeit und vor allem als Begründer der Hermeneutik gilt. Ab 1783 war er Schüler im Nieskyer Pädagogium, ab 1785 besuchte er das Theologische Seminar in Barby. Wenn seine Schulzeit in Herrnhuter Erziehungsanstalten der Zeit aus heutiger Sicht vergleichsweise kurz erscheint, so zeugt seine Anwesenheit von der in weiten Teilen der gehobenen Schicht grundsätzlich positiven Bewertung dieser vor Ort geleisteten Erziehungsarbeit.


Niesky fällt für das geübte Auge für die Vielzahl an historischen Gartenanlagen auf. Der Schwesternhausgarten samt Wartturm, Astrachan, Mon Plaisir und Heinrichsruh sind historisch durch die Erziehungsarbeit der Brüder und Schwestern entstandene Grünanlagen mit einem leider heutzutage kaum beachteten überregionalen Wert. Denn diese Schulanlagen erlaubten es den Schülern, den Umgang mit der Natur zu erlernen und die Beobachtungen niederzuschreiben. Viele der dort lebenden Schüler wie auch Lehrer hinterließen nach ihrem Tod einen reichen Fundus an Aufzeichnungen zur Natur oder verfassten wichtige naturwissenschaftliche Schriften und Fachbücher. Interessanterweise ist der Nieskyer Johann Gottfried Schultz als einer derjenigen, die für die Verbindung zwischen Kleinwelka und Niesky stehen. Er unterrichtete hauptsächlich im Nieskyer Pädagogium, war aber auch in verschiedenen Professionen für die Brüder-Unität tätig. Unter anderem werden ihm die Anlage der Herrnhuter Siedlung in Königsfeld im Schwarzwald sowie das dortige Schwesternhaus als Architekten zugeschrieben.

 

 



Auch in Christiansfeld in Dänemark war Schultz tätig. In der Oberlausitz trug er mit seinen Kenntnissen zur landschaftlich sentimentalen Umgestaltung der Gröditzer Skala bei. Sein umfassendes Werk landschaftlicher Skizzen ist bis heute nicht ausreichend erschlossen und erforscht. Schultz war seinerzeit mit der Vorsteherin des Schwesternhauses Kleinwelka verheiratet und Mitglied der örtlichen Gemeinde. 

 

 

 

 

 

Das Schwesternhaus-Ensemble Kleinwelka hingegen gilt Kennern als das authentische Beispiel eines Chorhauses der ledigen Schwestern. Alle sechs denkmalgeschützten Gebäude sind weitestgehend in ihrer Originalsubstanz erhalten geblieben. Viele andere Schwesternhäuser in den weltweit über 30 Siedlungen der Herrnhuter Brüdergemeine sind durch Nutzungsänderungen baulich stark verändert worden oder existieren nicht mehr. Das Gebäude-Ensemble Kleinwelka hingegen ist sogar mit seinem für die Eigenversorgung so wichtigen Garten weitestgehend erleb- und nachvollziehbar. Selbst die Fremdnutzungen zu DDR-Zeiten haben dieses Zeugnis des gemeinschaftlichen Lebens kaum etwas anhaben können. So ist das Schwesternhaus-Ensemble Kleinwelka das in unmittelbarer räumlicher Nähe zum Ursprungsort Herrnhut vollständig erlebbare, authentische Zeugnis der baulichen Manifestation gemeinschaftlichen, generationsübergreifenden Lebens. 
So ist es eigentlich selbsterklärend, dass gerade dieses Gebäude-Ensemble als Tagungsort des internationalen Symposiums zum Herrnhuter Kulturerbe diente. Kein anderes Gebäude hätte sich aus kommunaler Sicht besser dafür geeignet und wäre dem Tagungsthema so nahegekommen. Zumal zeigte sich der Ort aufgrund des spätsommerlichen und sonnigen Wetters an diesen drei Tagen von seiner ganz besonderen Seite. Trotz des gegenwärtigen unsanierten Zustands und seiner erst allmählich durch den Verein erfolgten Belebung war der historische Speisesaal der perfekte Tagungsort, ergänzt durch weitere Räume im Erdgeschoss und dem lieblichen Hofgarten. Die Gäste, die bis dahin das Ensemble nicht kannten, waren von dessen Charme sehr angetan und positiv überrascht. Hier konnte sich die Stadt Bautzen als Gastgeberin von ihrer besten Seite zeigen und auf die Aufgabe, die ihr als kommunal zuständige Verwaltung mit dem Stadtteil Kleinwelka zukommt, überregional aufmerksam machen. 
Somit ist die zum Abschluss getroffene Vereinbarung aller sächsischen Kommunen, die jeweils für eine der historisch begründeten Siedlungen zuständig sind, ein wichtiger Meilenstein für die Sicherung, Bewahrung und Weiterentwicklung des gemeinsamen Kulturerbes. Diese gemeinsame Erkenntnis und der Wille, zukünftig diesen „Rohdiamanten“ zu entwickeln, hilft zudem den vielen ehrenamtlichen Initiativen und Vereinen, die sich um weitere Stätten des Herrnhuter Kulturerbes kümmern. Denn Orte wie das Adelspädagogium und das Schloss in Uhyst an der Spree als Ausgangspunkt der pädagogischen Erziehungsanstalten, Königshain als Wohnsitz von Carl A. Gottlob von Schachmann, die Nieskyer Parkfreunde als aktive Parkpfleger, die nachweislich wichtigen Verbindungen nach Gröditz und nach Görlitz sind die ersten, die von so einer kommunalen Zusammenarbeit profitieren können, da ihr ehrenamtliches Engagement deutlich aufgewertet wird. Zudem profitieren die Stadtverwaltungen von dem großen Wissen dieser ehrenamtlichen Akteure, was nicht zu unterschätzen ist.
Bezogen auf die internationalen Verbindungen freut es umso mehr, dass nun auch außerhalb des bisherigen kirchlichen Kontexts Arbeitsbeziehungen entstehen, die hilfreich für den Erhalt und das Verständnis dieses Kulturerbes sind. Mit Ettie Castenskiold als Präsidentin Europa Nostra Dänemark gibt es nun eine sehr gut vernetzte Ansprechpartnerin nach Dänemark für gemeinsame Projekte und Veranstaltungen in allen Bereichen des kulturellen Lebens. Besonders erfreulich war zudem der erste Kontakt mit ehrenamtlich Engagierten aus den ehemaligen Herrnhuter Siedlungen wie Nowa Sól, ehemals Neusalz in Schlesien. Noch vor zwanzig Jahren schien das Interesse an dieser gemeinsamen Geschichte kaum nennenswert. Dies hat sich nun anscheinend deutlich geändert und gibt Hoffnung, dass Kleinwelka künftig Ausgangspunkt für grenzüberschreitende Projekte wird. 

 

 


Der vor Ort tätige Schwesternhaus Kleinwelka e.V. hat in enger Abstimmung mit der Brüder-Unität als Eigentümerin der Häuser zwei große, teilweise grenzüberschreitende Förderprojekte initiiert. Diese hätten die personelle und bauliche Situation vor Ort deutlich vorangebracht. Doch aufgrund der angespannten Haushaltslage im Bund und auf Landesebene sowie stetig gestiegener Anforderungen der Fördermittelgeber mussten die Anträge nach jahrelanger Arbeit ergebnislos zurückgezogen werden. Die Auswirkungen auf die bisherige erfolgreiche Vereinsarbeit und die Motivation ihrer ehrenamtlich aktiven Mitglieder sind im Moment nur zu ahnen.
Daher ist das internationale Symposium in Kleinwelka sowie die dabei entstandene Absichtserklärung einer kommunalen Zusammenarbeit samt Einbindung der zahlreichen ehrenamtlichen Aktivitäten von allen Akteuren zu begrüßen. Nun besteht die Chance, den Ort Kleinwelka behutsam zu entwickeln sowie authentische Orte wie das Schwesternhaus-Ensemble für jetzige Generation erlebbar zu machen und für künftige Generationen zu sichern.

 

Lutz-Wolfram Reiter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter
an der TU Dresden

 

Artikel veröffentlicht am 28. November 2025

 

Artikel veröffentlicht am 28. November 2025