Der Graf und die Gräfin
Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760) wuchs bei seiner Großmutter Henriette Katharina von Gersdorf in Großhennersdorf, einem Nachbarort von Herrnhut, auf. Sie war eine hoch gebildete Adlige, die Französisch, Italienisch, Lateinisch und Griechisch konnte. Gleichzeitig war sie eine fromme Frau und stand mit führenden Persönlichkeiten des Pietismus wie Philipp Jakob Spener in Kontakt. Zinzendorf lernte bei ihr beides kennen: den weiten Horizont ihrer Bildung und den schlichten Glauben ihrer Herzensfrömmigkeit.
1722 heiratete Zinzendorf die gleichaltrige Erdmuth Dorothea von Reuß-Ebersdorf (1700-1756). Sie führten eine »Streiterehe«, wie sie das nannten. Das heißt: der Kampf für die Sache Gottes stand von vornherein an erster Stelle, vor dem Bedürfnis nach persönlicher Geborgenheit und Selbstverwirklichung. Vor allem für die Gräfin bedeutete das viel Verzicht, besonders während der langen Trennungszeiten der Eheleute aufgrund der Reisen des Grafen in Europa und nach Übersee.
Neue Lebens- und Glaubensformen
In der Folgezeit entwickelten die Herrnhuter zahlreiche neue Lebens- und Glaubensformen. 1728 zogen die unverheirateten jungen Männer zusammen, um ihren Glauben gemeinsam verbindlich leben zu können. Von diesen Bewohnern des »Brüderhauses« gingen zahlreiche Impulse für die junge Gemeinschaft aus. Sie lebten zusammen, arbeiteten zusammen, schliefen in großen Schlafsälen und hielten gemeinsame Versammlungen. Ähnlich die jungen Frauen.
Alle, Brüder und Schwestern brachten sich mit ihren Gaben in die Gemeinde ein. Eine vielfältige Ämterordnung wurde entwickelt, in der jedes seinen Platz hatte. Dabei waren Brüder für Brüder verantwortlich und Schwestern für Schwestern. Dadurch erhielten von Anfang an Frauen Verantwortung in der Leitung, Seelsorge und Verkündigung. Im Brüderhaus entstanden bald liturgische Formen, die die Brüdergemeine bis heute prägen, so die Feier des Ostermorgens auf dem Gottesacker und der Jahreswechsel mit der Rückschau auf das vergangene Jahr.
Glaubensflüchtlinge aus Mähren
Im Juni 1722 kam der Zimmermann Christian David (1690-1751) mit zwei deutschsprachigen Familien aus Mähren bei Henriette Katharina von Gersdorf, der Großmutter von Zinzendorf, in Großhennersdorf an. Sie waren Nachfahren der Böhmischen Brüder und wollten ihren Glauben im evangelischen Sachsen in Ruhe und Frieden leben. Zinzendorfs Gutsverwalter wies ihnen einen Platz an der Landstraße zwischen Zittau und Löbau zu und am 17. Juni fällten sie den ersten Baum zum Bau eines Wohnhauses. Der Anbau von Herrnhut begann. Auch wenn Zinzendorf dazu grünes Licht gegeben hatte, war diese Ansiedlung zunächst ohne sein Zutun entstanden. Er lebte mit seiner Frau noch in Dresden.
Die Brüdergemeine entsteht
Im Mai 1727 zog Zinzendorf selbst nach Herrnhut, nachdem er die werdende Gemeinschaft vorher aus der Ferne begleitet hatte. Ein Grund für diese Entscheidung lag in den Spannungen, die inzwischen entstanden waren. In einer Zeit, in der die Landesherren vorgaben, welche Konfession in einem Gebiet herrschte, zog Herrnhut mit seiner Glaubensfreiheit zahlreiche Menschen an. Darunter waren Vertreter ganz unterschiedlicher Glaubensrichtungen, und der kleine Ort war mittlerweile heillos zerstritten.
Zinzendorf kümmerte sich um die Brüder und Schwestern. Alle wurden in Gruppen eingeteilt, die intensiv miteinander reden sollten. Zinzendorf führte viele Gespräche und stellte eine Ortssatzung auf, die alle Bewohner einzeln unterschrieben. Schließlich war es eine Abendmahlsfeier am 13. August 1727 in der lutherischen Kirche in Berthelsdorf, in der die Zerstrittenen wieder zusammengeführt wurden. Sie erlebten dies als Eingreifen Gottes durch den Heiligen Geist. In ihr Tagebuch schrieben sie: »Wir brachten diesen und den folgenden Tag in einer stillen und freudigen Fassung zu und lernten lieben.« Bis heute betrachtet die Brüdergemeine dies als ihren Gründungstag – und nicht den Beginn des Anbaus von Herrnhut.