Das theologische Programm des Jan Hus

»Unsere Seite hat nicht im Sinn, das Volk vom wahren Gehorsam abzubringen, sondern, dass es ein Volk sei, einmütig geleitet durch das Gesetz Christi. Zweitens ist es die Absicht unserer Seite, dass Vorschriften, die den Charakter des Antichrist tragen, das Volk nicht verdummen oder von Christus trennen, sondernd dass es gewissenhaft durch das Gesetz Christi regiert werde, zusammen mit menschlicher Sitte, sofern sie das Gesetz des Herrn gutheißt. Drittens zielt unsere Seite darauf, dass die Geistlichkeit ehrbar lebe nach dem Evangelium Jesu Christi und verwerfe zur Schau gestellte Pracht, Geiz und Unmoral. Und als viertes fordert und verkündet unsere Seite, dass die kämpfende (irdische; Anm. d. Übers.) Kirche bestehe aus den durch den Herrn eingesetzten Teilen: aus den Priestern Christi, die sein Gesetz in Reinheit bewahren, aus den weltlichen Herren, die die Einhaltung der Anordnungen Christi durchsetzen, und aus dem einfachen Volk, das diesen beiden Teilen dient, nach dem Gesetz Christi.« (»Von der Kirche«, Kap 16)

Diese programmatischen Sätze sind mit marginalen Veränderungen von Wyclif übernommen, viel­leicht deshalb wurden sie wenig beachtet. Vielleicht auch wegen der für evangelische Ohren schmerz­haft starken Betonung des Gesetzes. Dazu ist wichtig zu wissen: Gottes Gesetz ist für Hus wie für Wyclif die ganze Schrift, zum Gesetz Christi gehört auch und gerade das Evangelium, mit Geboten und Gnadenzusagen. In seiner Verteidigungsschrift für Konstanz unter dem Titel »Über die Genügsamkeit des Gesetzes Christi« betont er: Das Gesetz Christi allein genügt zur Leitung der Kirche Jesu Christi auf Erden.

Im zweiten Punkt zeigt Hus, dass es ihm nicht um Revolution geht. Menschlicher Sitte, sofern sie nicht die Zeichen des Antichrist trägt, sondern dem Gesetz Christi entspricht, kann Folge geleistet werden. Schwieriger ist für heutige Ohren die Unbekümmertheit, wie Hus die Ständeordnung des Mittelalters in seinem Programm übernimmt, als sei sie in der Bibel vorgegeben, mit betendem, herrschendem und arbeitendem Stand. Allerdings liegt in der konsequenten Bindung an das Gesetz Christi schon der Ansatz dazu, dass bereits in der ersten Generation seine Nachfolger diese Gesellschaftsordnung radikal in Frage stellen werden.

Die Infragestellung aller vorgegebenen Dogmen drückt sich vielleicht noch deutlicher in einem Zentralbegriff bei Hus aus, über den hier nur auf den Artikel A. Molnárs (1985) zu verweisen ist: der Wahrheit. Weniger eine Erkenntniskategorie, als eine moralische Verpflichtung auf das im Gesetz Christi Erkannte, wird das Streben nach einem Leben gemäß der erkannten Wahrheit Christi doch in der Folge für viele Themen, mit denen sich Hus nicht im Einzelnen befasste, entscheidend werden: Heiligenverehrung und Fegefeuer, Abendmahlsfragen und die Siebenzahl der Sakramente, alles kommt auf den Prüfstand.

Schon durch Hus selbst wird die Unterordnung des dritten Standes in Frage gestellt, wenn er diesem zugesteht, Gebote und Forderungen von oben zu prüfen - und gegebenenfalls nicht zu befolgen. Allerdings gilt das nur von Fall zu Fall nach eingehender Prüfung, also nicht als Aufforderung zur Revolution. Guten Herrschern untertan zu sein und für alle zu beten, gilt weiterhin. Da das Ideal guter Herrschaft aber selten erfüllt wird, gilt seine leidenschaftliche Kritik allen Formen zeitgenössischer Aus­beutung: überhöhte Abgaben und Steuern, Schatzung, Wucher, Erpressung, Preismanipulationen ...

Ähnlich wie später Luther, aber anders als seine Nachfolger (Chelčický und die ersten Böhmischen Brüder) stellt Hus die Aufgabe der weltlichen Macht, auch mit dem Schwert die Einhaltung des Gesetzes Christi durchzusetzen, nicht in Frage. Wenn die Geistlichkeit durch Unmoral oder gar Totsünden ihre Legitimität verliert, kann der weltliche Herrscher ihr die Pfründen wegnehmen oder anders gegen sie vorgehen. Ohne es zu ahnen, bereitet Hus damit der nach seinem Tod einsetzenden gewaltsamen Durchsetzung des Gesetzes Christi durch Taboriten und andere seiner Nachfolger vor.

Sein Ideal einer Gesellschaft nach dem Gesetz Christi beschreibt ein vermächtnisähnlicher Brief aus dem Gefängnis in Konstanz, in dem Jan Hus seine Landsleute anspricht: »Ich bitte die Herren, dass sie mit der armen Bevölkerung in ihrem Herrschaftsbereich gnädig umgehen und sie gerecht regieren. Ich bitte die Bürger, dass sie ihre Geschäfte rechtmäßig besorgen. Ich bitte die Handwerker, dass sie ihre Werk treu führen und sich daraus nähren. Ich bitte die Diener, dass sie ihren Herren und Herrinnen treu dienen. Auch bitte ich, dass ihr Euch liebt, Guten nicht Gewalt antut und jedem die Wahrheit gönnt.«

© Evangelische Brüder-Unität 2015

Download als PDF